Nachbetrachtung zum Urteil gegen Reinhard S.


Brauchen wir in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht? - Im Grunde genommen handelt es sich bei dem Siemens-Skandal um ein massives Unternehmensvergehen und nicht um irgendein Untreuedelikt eines "kleinen" Reinhard S.
Der Fall Siemens: Die Prozessökonomie geht unter, die Prozessgerechtigkeit wahrscheinlich auch - Die Frage ist theoretischer Natur: Wie würde sich der Korruptionsfall Siemens darstellen, wenn wir ein Unternehmensstrafrecht hätten?


Von Rainer Annuscheit

(29.07.08) - Das Urteil ist gesprochen Worten. Reinhard S., dessen Nachname nun fleißig in sämtlichen Medien nachgereicht wird, wurde am Montag vom Landgericht München I zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und 108.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Reinhard S. hat Untreue in 49 Fällen begangen, indem er 48,8 Millionen Euro in schwarze Kassen transferiert hat. Außerdem hat er selbst Zahlungen über Tarnfirmen und fingierte Beraterverträge abgewickelt. S. nahm das Urteil an, das somit rechtskräftig ist.

Einen Prozess, in dem viele Fragen bleiben offen blieben:
Weder konnte geklärt werden, wohin nun genau das Geld aus den schwarzen Kassen geflossen war, noch konnte exakt festgestellt werden, ob Siemens dadurch einen Vorteil erlangt hatte, und wenn ja, wie dieser Vorteil beschaffen war. Es ließ sich noch nicht einmal eruieren, wo überhaupt das ganze Geld geblieben war. Nur eines ließ sich zweifelsfrei nachweisen: Der Angeklagte selbst hatte aus dem Aufbau dieser Kassen keinen persönlichen Vorteil gezogen (etwa durch Abzweigung in eigene Hände). Mehr noch, der Richter Peter Noll schloss sich der Ansicht der Strafverteidiger (und auch der Überzeugung der Staatsanwälte) an, dass der 57jährige Ex-Siemens-Manager im Grunde nur zum Wohle seiner Firma handeln wollte.

Gezeigt hat der Prozess, wie mühevoll es ist, Licht in den Siemens-Schmiergeldskandal zu bringen. Warum dies so ist, darüber lässt sich trefflich streiten.

Fakt ist: Wir haben in Deutschland kein Unternehmensstrafrecht.

Um überhaupt das Korruptionsvergehen im Fall Siemens ahnden zu können, muss man jedes einzelne Individuum, das irgendwie in den Korruptionsskandal eingebunden ist, identifizieren, seine Schuldfrage klären und schließlich anklagen. Das ist nicht nur ein sehr mühevoller Vorgang, er hat auch wenig mit Prozessökonomie, geschweige denn mit Prozessgerechtigkeit zu tun. Zweifelsfrei hat von dem Vorgehen des jetzt verurteilten Reinhard S. die Firma Siemens profitiert. Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte man nicht über Jahrzehnte die Auslandskorruption systematisch bei Siemens praktiziert. Nur nachweisen lässt sich dieser Vorteil nicht (bzw. nur äußerst schwer).

Untreue ist paradoxerweise genau das, was Reinhard S. eigentlich nicht begangen hat: Er war der Firma Siemens gewissermaßen treu und ergeben bis zum letzten Blutstropfen. Nur darf ihm das die Firma nicht mehr lohnen, mehr noch, sie muss ihn wahrscheinlich noch in Regress nehmen.

Rund 300 Beschuldigte soll es bisher im Siemens-Skandal geben. Kaum ein Zeuge mag aussagen. Die Angst, plötzlich ebenfalls als Beschuldigter geführt zu werden, ist allgegenwärtig. Nicht zu Unrecht: Die Gefahr, sich als Zeuge plötzlich selbst zu belasten, lässt sich nicht von der Hand zu weisen. Folglich hat der Siemens-Prozess gezeigt, dass "Erinnerungslücken" der große Renner waren. Immer wieder musste Staatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl von Vernehmungen berichten, wenn Zeugen die Aussage verweigerten. Das hat Richter Noll zur humorvollen Frage animiert: "Bin ich denn so gemein zu den Zeugen, dass die sich nicht mehr her trauen?" (Zitat aus dem Münchner Merkur v. 28. Juli 2008).

Die Fragen sind theoretischer Natur:
Wie würde sich der Korruptionsfall Siemens darstellen, wenn wir ein Unternehmensstrafrecht hätten? Wären dann die Aussagen detaillierter ausgefallen? Hätten dann viele Zeugen nicht geschwiegen? Würde man den Siemens-Skandal lückenlos aufklären können? Würde man mit "einem" großen Siemens-Prozess auskommen (zumindest in Deutschland), anstatt sich mit einer Kette von Prozessen gegen viele Siemens-Mitarbeiter wahrscheinlich noch durch dieses Jahrzehnt herumschlagen zu müssen?

Wir haben kein Unternehmensstrafrecht und deshalb greift man sich Siemens-Soldat auf Siemens-Soldat, um ihm die Schuld am Siemens-Korruptions-Krieg nachweisen zu können. Wo die Schuldfrage im Vorfeld nicht ausreichend geklärt werden kann, bemüht man Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflicht (z.B. gegen Heinrich von Pierer), um wenigstens etwas am Lack kratzen zu können.

Bei Siemens "frisst" der Korruptionsfall nun die eigenen Mitarbeiter
"Die Revolution frisst ihre Kinder", hieß es im Zusammenhang mit der Französischen Revolution - bei Siemens "frisst" nun der Korruptionsfall Siemens - Untreue und Korruption von Siemens-Mitarbeitern zum Wohle des Unternehmens begangen - jeden einzelnen Beteiligten. Gerecht ist das wahrscheinlich nicht, denn eigentlich müsste das Unternehmen Siemens eine Kollektivschuld tragen.

Diskutiert wird nämlich nicht,
>> Welche Maßnahmen hat das Unternehmen Siemens ergriffen, um nach dem Verbot der Auslandsbestechung (Februar 1999 gesetzlich eingeführt) die eigene Korruptionsmaschinerie wirkungsvoll auf Stopp zu stellen?
>> Welche Edikte hat der Vorstand erlassen? Wie hat er sie überprüft?
>> Welche Kontrollorgane wurden ausgebaut?
>> Wie hat der Aufsichtsrat der Siemens AG agiert? Wie hat er seine Aufsichtspflichten interpretiert und wahrgenommen? >> Fiel vielleicht im Februar 1999 die Frage: "Wir bestechen nun seit Anbeginn der Tage, weiß jemand einen Rat, wie man das von heute auf morgen auf Null bringen kann?"

Es gibt auch eine Kultur des Schweigens, in der man einfach stillschweigend voraussetzt, dass alles zum Wohle des Unternehmens getan wird. Wie auch immer. Der große Interpretationsspielraum ist gewollt.

Eigentlich haben wir nur vernommen, dass es da den Compliance-Beauftragten Dr. Albrecht Schäfer gab, dessen Mini-Abteilung ohnehin nichts aufklären konnte, weil sie personell überfordert war. Wenn man sich anschaut, welchen Compliance-Apparat die Firma Siemens seit Bekanntwerden des Skandals aufgebaut hat (weltweit: 86 im Jahr 2006; 450 im Oktober 2008), ahnt man, das Compliance vor dem Bekanntwerden des Korruptionsskandals bei Siemens eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat.

Im Grunde genommen handelt es sich bei dem Siemens-Skandal um ein massives Unternehmensvergehen und nicht um irgendein Untreuedelikt eines "kleinen" Reinhard S. und anderer Siemens-Mitarbeiter (selbst einen Finanzvorstand und andere Vorstände würde ich da nicht ausnehmen. Ein Rädchen ist fast jeder im Unternehmen. Es gibt nicht den Alleinherrscher, der alles wie im Familienunternehmen bestimmen kann).

Eine Betrachtungsweise, die sich auf Untreue- und Bestechungsvorwürfe einzelner konzentriert, wird der Dimension des Siemens-Skandals überhaupt nicht gerecht und wirft zudem ein falsches Licht auf die Abhandlung des Themas.

Einzelne Akteure, die man erwischt hat, müssen nun die gesamte Last eines "Korruptionssystems Siemens" tragen. Bleibt zu hoffen, dass diese "Schach-Figuren", die sich immer mehr als bedrückende Einzelschicksale präsentieren, psychisch stark genug sind, um die Prozesse und noch folgende juristische Auseinandersetzungen zu tragen (und zu überleben - im wahrsten Sinne des Wortes).
(Compliance-Magazin.de: ra)

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