
Sanktionierung zur Durchführung des Unionsrechts
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-544/23 | BAJI Trans
Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes erstreckt sich auf eine nach nationalem Recht als verwaltungsrechtlich eingestufte Sanktion, wenn sie im Sinne des Unionsrechts strafrechtlicher Natur ist - Dieser Grundsatz ist auch bei einer Kassationsbeschwerde anzuwenden, wenn sie Teil des gewöhnlichen Verlaufs eines Rechtsstreits ist, unabhängig davon, ob die Entscheidung, gegen die diese Beschwerde gerichtet ist, nach nationalem Recht als rechtskräftig angesehen wird
Auf eine Frage des Obersten Verwaltungsgerichts der Slowakei nimmt der Gerichtshof wichtige Erläuterungen zum Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes vor, der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert ist (die in allen Fällen gilt, in denen das Recht der Union von einer nationalen staatlichen Stelle durchgeführt wird). Auch wenn dieser Grundsatz dem Bereich des Strafrechts vorbehalten ist, schließt die Einstufung einer Sanktion als verwaltungsrechtlich im nationalen Recht die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes nicht zwangsläufig aus.
Es ist nämlich möglich, dass nach dem Unionsrecht und zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung dieses Grundsatzes eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen der Art der Zuwiderhandlung und des Schweregrads der Sanktion als strafrechtlich anzusehen ist. Im Übrigen findet dieser Grundsatz Anwendung, solange die Verurteilung nicht rechtskräftig geworden ist. Was in diesem Zusammenhang als rechtskräftiges Urteil anzusehen ist, richtet sich ebenfalls nach dem Unionsrecht. Der bloße Umstand, dass eine Verurteilung nach nationalem Recht als rechtskräftig eingestuft wird, obwohl gegen sie eine Kassationsbeschwerde eingelegt werden kann, reicht nicht aus, um die Anwendung dieses Grundsatzes auszuschließen.
In der Slowakei wurde gegen den Fahrer eines Betonmischfahrzeugs eine Geldbuße von 200 Euro verhängt, nachdem am 4. November 2015 festgestellt worden war, dass der Fahrtenschreiber seines Fahrzeugs nicht der obligatorischen regelmäßigen Nachprüfung unterzogen worden war. Diese Verpflichtung ergab sich damals aus dem slowakischen Recht in Verbindung mit dem Unionsrecht. (1).
Das Regionalgericht Bratislava, das vom Fahrer und der Gesellschaft BAJI Trans, zu der das Betonmischfahrzeug gehörte, angerufen wurde, bestätigte diese Geldbuße im Jahr 2019. Der Fahrer und BAJI Trans legten daraufhin Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung des Regionalgerichts Bratislava ein. In der Folge wurde das Unionsrecht mit Wirkung vom 20. August 2020 dahin gehend geändert, dass die Mitgliedstaaten nunmehr Fahrzeuge für die Lieferung von Transportbeton von der Verpflichtung ausnehmen können, mit einem Fahrtenschreiber ausgerüstet zu sein. (2)
Dies tat die Slowakei, während das Kassationsverfahren noch anhängig war. Der Fahrer und BAJI Trans machten daraufhin geltend, dass die im November 2015 begangenen Handlungen nicht mehr rechtswidrig seien und die Geldbuße daher aufgehoben werden müsse. Das Oberste Verwaltungsgericht der Slowakei, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, hat den Gerichtshof nach der Tragweite des in der Charta verankerten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gefragt. Es macht geltend, dass nach slowakischem Recht die in Rede stehende Zuwiderhandlung als Ordnungswidrigkeit angesehen werde und die Entscheidung des Regionalgerichts Bratislava unabhängig von der Möglichkeit, ein Rechtsmittel gegen sie einzulegen, als rechtskräftig angesehen werde. Erstens stellt der Gerichtshof fest, dass der slowakische Gesetzgeber sowohl mit seinen ursprünglichen Rechtsvorschriften als auch mit der späteren Änderung Unionsrecht durchgeführt hat, so dass die Charta im vorliegenden Fall anwendbar ist.
Zweitens hebt der Gerichtshof hervor, dass der in der Charta verankerte Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes dem Bereich des Strafrechts vorbehalten bleibt. Allerdings schließt der Umstand, dass eine Sanktion im nationalen Recht als verwaltungsrechtlich eingestuft wird, die Anwendung dieses Grundsatzes nicht zwangsläufig aus. Um eine einheitliche Anwendung dieses Grundsatzes in der gesamten Europäischen Union zu gewährleisten, können nämlich zwei andere Kriterien zur Einstufung einer solchen Sanktion als strafrechtliche Sanktion führen, und zwar die Art der Zuwiderhandlung und der Schweregrad der Sanktion.
Drittens stellt der Gerichtshof klar, dass die Anwendung des in der Charta verankerten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes voraussetzt, dass die Gesetzesänderung eine Änderung des Standpunkts des Gesetzgebers zur strafrechtlichen Qualifikation der von der betroffenen Person begangenen Handlungen oder zu der zu verhängenden Strafe widerspiegelt. Im konkreten Fall hat der slowakische Gesetzgeber tatsächlich seinen Standpunkt hinsichtlich des Willens, einen Sachverhalt wie den, der dem betreffenden Fahrer zur Last gelegt wurde, zu ahnden, geändert.
Viertens weist der Gerichtshof darauf hin, dass der in der Charta verankerte Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes Anwendung findet, solange keine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist. Der Umstand, dass eine Verurteilung nach nationalem Recht als rechtskräftig angesehen wird, schließt die Anwendung dieses Grundsatzes jedoch nicht aus. Eine Verurteilung kann für diesen Zweck nämlich nicht als rechtskräftig angesehen werden, wenn gegen sie ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt werden kann, d. h. ein Rechtsbehelf, der Teil des gewöhnlichen Verlaufs eines Rechtsstreits ist und als solcher eine verfahrensrechtliche Entwicklung darstellt, mit deren Eintritt jede Partei vernünftigerweise zu rechnen hat. Dies ist bei der Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht der Slowakei der Fall.
Somit ist ein Kassationsgericht grundsätzlich verpflichtet, dem Täter einer Straftat, deren Sanktionierung zur Durchführung des Unionsrechts gehört, eine strafrechtliche Regelung zugute kommen zu lassen, die für diesen Täter günstig ist, selbst wenn diese Regelung nach Erlass der gerichtlichen Entscheidung, die Gegenstand der Kassationsbeschwerde ist, in Kraft getreten ist.
HINWEIS: Mit einem Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Union vorzulegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser ist unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben. Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nicht amtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
(1) Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über das Kontrollgerät im Straßenverkehr in der durch die Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 geänderten Fassung.
(2) Verordnung (EU) 2020/1054 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2020 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 hinsichtlich der Mindestanforderungen an die maximalen täglichen und wöchentlichen Lenkzeiten, Mindestfahrtunterbrechungen sowie täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten, und der Verordnung (EU) Nr. 165/2014 hinsichtlich der Positionsbestimmung mittels Fahrtenschreibern.
(Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 1. August 2025: ra)
eingetragen: 06.08.25